Der Festsaal der Alpen ist die Berninagruppe im Schweizer Kanton Graubünden – und dieser Name ist völlig berechtigt. Für Bergsteiger ist die Bernina als einziger 4000er der Ostalpen mit dem berühmten Biancograt ein Traumziel. Auch die umgebenden Gipfel mit so klingenden Namen wie Piz Palü, Bellavista oder Piz Morteratsch locken mit anspruchsvollen Hochtouren.
Zum Festsaal wird das Gebiet durch das grandiose Panorama des Piz Bernina und seiner Nachbargipfel, die ein riesiges Amphitheater aus Eis und Fels über dem mehr als 2000m tiefer liegenden Ausgangspunkt Morteratsch bilden. Auch der Wanderer genießt diese Kulisse von der Diavolezza aus oder auf einer Tagestour von Morteratsch zur Bovalhütte.
Im August 2013 führten Nicola Stein und Thomas Neugebauer sieben Bergsteiger der Bezirksgruppe Kreis Böblingen der Sektion Schwaben des DAV in diesen Festsaal.
Wanderung vor traumhafter Kulisse
Am Freitagmittag treffen wir uns am Bahnhof Morteratsch. Dort empfängt uns der Festsaal in vollem Ornat: strahlender Sonnenschein, tiefblauer Himmel, gleißende Gletscher über dunklen Wäldern und grünen Wiesen. Wir sind natürlich nicht die Einzigen, die diesen Blick genießen wollen, der große Parkplatz ist um die Mittagszeit knallvoll. Wir quetschen uns an den Rand der Durchfahrt, um zunächst die persönliche Ausrüstung zu überprüfen und durch DAV-Ausrüstung zu ergänzen. Dann kann es endlich losgehen.
Zunächst verläuft der Weg im Talgrund. So führt er die meisten Besucher in einem Spaziergang bis zur Gletscherzunge. Der Sommerweg zur Bovalhütte zweigt bald ab und verläuft auf oder hinter der Seitenmoräne des Gletschers. Diese wunderschöne Wanderung führt durch lichten Wald und Wiesen im Tälchen hinter der Moräne, immer mit Blick auf die langsam näherkommenden Gletscher. Viele wandern als Tagestour zur Hütte und zurück. Bei unserem Aufstieg am Nachmittag kommen sie uns alle entgegen. Als wir gegen 15 Uhr die Bovalhütte auf knapp 2500m erreichen, haben wir die Terrasse schon wieder fast für uns.
Den Nachmittag nutzen wir, um wichtige Eis- und Felstechniken aufzufrischen: Spaltenbergung und Abseilen können wir an einem Felsen in Hüttennähe üben.
Eine Wochenendtour in Regionen um 4000m Höhe birgt immer die Gefahr mangelnder Akklimatisation / Höhenanpassung. Vorbereitungstouren in den Wochen zuvor können das Problem reduzieren. Aber am Ende reisen wir Schwaben eben doch nach einer teils stressigen Arbeitswoche von nur 500m Höhe an. Deshalb widerstanden wir der Verlockung der Diavolezzabahn, die uns auf fast 3000 m inmitten des Festsaales katapultiert hätte und wählten stattdessen den Aufstieg zur Bovalhütte. Am zweiten Tag wollen wir den Piz Morteratsch besteigen und wieder zur Bovalhütte zurückkehren, da die Höhenanpassung besonders durch ein Zurückgehen auf einen mehrere hundert Meter tiefer liegenden Übernachtungspunkt gefördert wird.
Abwechslungsreicher Aufstieg zum Piz Morteratsch
Es geht früh los: Schon um 4:45 Uhr steigen wir noch in der Dunkelheit durch Wiesen und Blockwerk auf. Bei ca. 3000m beginnt die leichte Kletterei, die uns teils schuttig, teils in angenehm festem Fels bis zum Schwierigkeitsgrad II zur Fuorcla da Boval hinaufführt. Zum Glück ist die Route ausgiebig rot markiert, sonst hätten wir bei den vielen Querungen vermutlich nicht immer die leichteste Route gefunden.
In der Scharte angekommen brauchen wir am Übergang zum Gletscher eine der typischen „Umziehpausen“ der Hochtourengeher, um die Steigeisen anzuziehen und uns anzuseilen. Nach weiteren eineinhalb Stunden Anstieg über den Gletscher erreichen wir den Piz Morteratsch auf 3751m Höhe.
Logenplatz für das Schauspiel „Biancograt“
Nach Norden geht der Blick ungehindert über die niedrigeren Felsgipfel nach Pontresina und „gefühlt“ über halb Graubünden. Der Aussichtshöhepunkt aber ist der Blick auf den direkt gegenüber liegenden Biancograt des Piz Bernina. Bei Traumwetter und für die Höhe ungewöhnlich hohen Temperaturen können wir uns eine gemütliche Gipfelrast von fast einer Stunde gönnen und die Aussicht genießen.
Den Abstieg zurück zur Bovalhütte nutzen wir noch einmal für einige Auffrischungsübungen: Im Fels seilen wir ab und legen ein Geländerseil, das Schneefeld steigen wir am Fixseil ab. So fühlen wir uns technisch gut vorbereitet für die Touren der nächsten Tage.
Am Sonntag steht „nur“ der Aufstieg zur Marco e Rosa Hütte auf dem Programm, aber diese Tour ist auch ohne Gipfel schon eine ausgewachsene Bergtour. Sie beginnt mit der steinigen Querung des Morteratschgletschers unter der Bovalhütte. Der Abstieg die Seitenmoräne hinunter ist eine ziemlich rutschige Angelegenheit. Die von den Gletschern zurückgelassenen Schutthalden sind nicht gerade ideales Gehgelände.
Auch heute strahlt die Sonne wieder von einem wolkenlosen Himmel. Als wir morgens um halb neun den Fortezzagletscher erreichen, ist dieser bereits tief aufgeweicht. Wir stapfen mühsam zur Kletterpassage über den Fortezza-Grat hinauf.
Kletterei mit Gegenverkehr
Offiziell hat auch die Fortezza nur den Schwierigkeitsgrad II, subjektiv scheint sie uns aber schwieriger als die Kletterei am Morteratsch. Deshalb entscheiden wir uns an mehreren Stellen zu sichern. Das kostet bei einer Gruppe von neun Personen viel Zeit. Noch mehr hält uns allerdings der starke Gegenverkehr auf. Von oben kommen uns in der Kletterstrecke 26(!) Personen entgegen. Schließlich ist es Sonntagmittag und sie sind alle auf dem Heimweg. Da die meisten sichern, kommt man auch nicht so einfach aneinander vorbei. So brauchen wir zwei Stunden für gerade einmal 100 Höhenmeter.
Oberhalb der Fortezza machen wir die inzwischen schon fünfte Umziehpause des Tages: Steigeisen an – aus – an – aus und nun wieder an für die lange Gletscherquerung über die Bellavistaterassen. Unter dem letzten der drei Bellavistagipfel angekommen können wir bereits die Hütte liegen sehen, müssen aber noch 200 Höhenmeter zwischen großen Gletscherspalten absteigen. Schade nur, dass man an den Stellen, wo man in die traumhaft blau leuchtenden Eiskavernen hineinsieht, so schlecht für ein Foto stehenbleiben kann. Aber irgendeiner der Gruppe steht in dem Moment leider immer gerade über einer Spalte.
Nach diesem langen Tag mit 1700m Aufstieg sind wir froh, nach einem letzten Gegenanstieg die Marco e Rosa Hütte auf knapp 3600m zu erreichen. Der mürrische Hüttenwirt wirkt zwar nicht gerade einladend, aber dafür ist die Hütte selber recht modern.
Am nächsten Morgen gehen die beiden Seilschaften getrennte Wege. Eine kleine Gruppe von drei Personen geht unter Thomas Führung die Bernina über den Spallagrat an. Nach den Erfahrungen im Fels am Morteratsch und der Fortezza ist uns klar, dass diese Tour einschließlich des Abstiegs zur Diavolezza für die große Gruppe zeitlich nicht zu schaffen ist. So besteigen wir anderen sechs den Piz Argient (3945m), der über einen einfachen Firngrat zu erreichen ist. Er steht im Schatten der großen Namen in der Nachbarschaft, ist aber trotzdem ein lohnendes Tourenziel.
Als wir im Abstieg vom Piz Argient auf die Route zu den Bellavistaterrassen einbiegen, sehen wir eine Dreierseilschaft kommen. Es sind unsere drei Berninaaspiranten! Sind sie geflogen? So schnell können Sie auch in der kleinen Gruppe nicht gewesen sein.
Missgeschick am Piz Bernina
Auf unsere neugierigen Fragen drucksen sie etwas herum. Dann rücken sie doch damit heraus, dass sie den Aufstieg wegen eines Missgeschicks abbrechen mussten: Ein Paar Steigeisen machte sich beim Wegpacken am Einstieg in den Felsgrat selbständig und sauste weit den Gletscher hinunter. Ein Riesenproblem auf einer Hochtour! Der Spallagrat ist weiter oben ein Firngrat und so war der Aufstieg ohne Steigeisen unmöglich. Die Bergung der Steigeisen war also leider der Höhepunkt dieser Tour.
Im Abstieg über die Fortezza seilen wir ab, was viel Spaß macht, aber bei neun Personen auch mit langen Wartezeiten verbunden ist. Das sind kalte Wartezeiten, denn die Hitze der letzten Tage hat einem schneidenden Wind Platz gemacht. Zumindest haben wir nun am Montag kaum Gegenverkehr.
Im Abstieg zum Persgletscher haben wir unser Tagesziel, die Bergstation der Diavolezzabahn (2973m), die ganze Zeit vor Augen. Nur leider schaut man am Ende ziemlich zu diesem Ziel auf, da die Diavolezza oberhalb der Moräne des Persgletschers liegt. Nach dem Queren des Gletschers müssen wir also noch 300 Höhenmeter Gegenanstieg bewältigen. Sie werden uns nach diesem traumhaften, aber anstrengenden Wochenende lang – das Weizenbier an der Diavolezza schmeckt dafür danach umso besser.
Den Festsaal der Alpen kann jeder von der Diavolezza aus bewundern, betreten sollte man ihn aber nur mit hochalpiner Ausrustung, der entsprechenden Ausbildung und Führung!