Zum Auftakt der Bergsaison ist der Gardasee im Frühling unser Ziel, als sich 12 Klettersteigfreunde am frühen Morgen des 21. April in Böblingen treffen.
Unter der bewährten Leitung von Thomas und Christof starten Brigitte, Conny, Inma, Jana, Karin, Ute, Martin, Siggi, Wolfgang und Lothar am Donnerstag in den kalten Morgen. Die Regenbekleidung ist an Bord, denn der Wetterbericht verspricht Regen und Gewitter zumindest für 2 Tage. Dieser Tag jedoch glänzt mit schönster Sonne, sodass wir die Fahrt in den Süden und die Aussicht auf die Alpen geniessen können. Vom Etschtal kommend ist besonders der erste Blick von Nago auf den Gardasee, der von hier wie eine halbgefüllte Badewanne mit steilen Wänden aussieht, beeindruckend. Tatsächlich treffen hier das Mediterrane und die Alpen fast unvermittelt aufeinander. Über 1000m dicke Gletscherzungen haben den See auf nur 65 m Meereshöhe ausgehobelt und die steilen Wände geschliffen. Dies geschah während der letzten Eiszeit vor ca. 10000 Jahren, erdgeschichtlich also quasi vorgestern. So hatte die Erosion nur wenig Zeit, die Gegensätze einzuebnen. Schon von hier können wir das Terrain für die vielen Klettersteige erahnen, die diese Steilwände bieten. In Italien heißen sie übrigens ‚vie ferrate‘ (Eisenwege).
Gegen Mittag landen wir ohne nennenswerten Stau in Arco, das auf nur 85 m etwa 10 km nördlich des Gardasees liegt. Hier beziehen wir für die nächsten 4 Tage unser Quartier direkt unterhalb der berühmten Colodriwände. Nach dem Verstauen des Gepäcks in den kleinen aber sauberen Zimmern des Hotels Garden starten wir zu einer ersten Kennenlerntour. Der erneuerte Colodriklettersteig ist leider noch ‚chiuso‘, so dass wir mit einer Wanderung auf den naheliegenden Monte Baone (479m) vorliebnehmen. Auf dem Hinweg können wir einen ersten Eindruck von Arco gewinnen, das sich in engen Gassen um den steil aufragenden Burgberg schmiegt. Auffallend sind die zahlreichen Bergsportgeschäfte in diesem Klettermekka am Gardasee, die im Laufe der nächsten Tage noch den einen oder anderen von uns anziehen werden. Am Fuße des Monte Baone, der ebenso wie der Burgberg steil aus der Ebene aufragt, bekommen wir auch einen Eindruck von der mediterranen Vegetation am Gardasee. Durch die geringe Höhe, die wärmespeichernde Wirkung der grossen Wassermasse und die regelmäßig ausgleichenden Land- bzw. Seewinde können hier noch Palmen, Zitrusfrüchte und Olivenbäume gedeihen. Tatsächlich soll hier das nördlichste Anbaugebiet von Oliven sein. Das daraus gewonnene Öl hat übrigens einen guten Ruf. Auf dem Monte Baone angekommen werden die ersten Gipfelbilder gemacht. Von hier oben schaut man sogar auf den Burgberg mit seinen zinnenbekrönten Türmen herunter. Der Abstieg geht auf glatten und extrem schrägen Kalkplatten in die Knie, so dass wir uns mit einem Gelato im Zentrum von Arco belohnen müssen. Am Abend steht, wie auch an den folgenden Tagen, die italienische Küche im Mittelpunkt. Pizza, Pasta und Dolce sorgen für eine kalorienreiche Grundlage für die kommenden Touren.
Am Freitag stehen endlich die ersten Klettersteige an. Der 80 km entferne Idrosee ist das Ziel. Dieser ist natürlich auch von Gletschern geschaffen, liegt aber höher und ist kleiner als der Gardasee, so dass er eher den Eindruck eines Bergsees vermittelt. Auch die Vegetation ist mitteleuropäischer. In dem kleinen Ort Vesta am östlichen Ufer ist das Ende der Welt erreicht. Die ab hier steil aufragende Seewand verhindert jede Weiterfahrt. Jedoch ist sie das ideale Terrain für den ersten Klettersteig, den ‘Sasse‘, der zwischen 50 und 3 m senkrecht oberhalb des Sees aber überwiegend horizontal durch die Felswand führt. Mehrfach hätte man die Möglichkeit, mit einem beherzten Sprung in das noch sehr kalte Wasser zu springen. Wir aber konzentrieren uns darauf, dass genau das nicht passiert und erreichen nach etwa 2 Stunden wieder das Örtchen, wo sich einige von uns die brennenden Füße im See kühlen und andere den ersten Cappuccino genießen. Die Pause tut gut, denn jetzt am Nachmittag ist der zweite Klettersteig angesagt. Der ‚Crench‘ hat es in sich. Steil geht es in die Vertikale. Mit Stellen bis zum Schwierigkeitsgrad C/D fordert er uns alle und einige noch mehr. Trotz Ausstiegsmöglichkeit vor den schwersten Stellen schaffen alle TN den Steig. Wenn auch, wie der Verfasser gestehen muss, mit klopfendem Herzen und einer Mischung aus Angst- und Anstrengungsschweiß. Eine kurze Ablenkung bietet ein kleiner schwarzer Skorpion, den wir mitten auf dem Klettersteig entdecken. Keine Ahnung was der hier will? Aber ihn ins Gebüsch zu setzen, traut sich keiner.
Nach diesen körperlichen und mentalen Herausforderungen müssen wir uns auf der Rückfahrt mit einem eigens für uns zubereiteten Menu in der kleinen Osteria dei Magasi in Biacesa beim Ledrosee belohnen. Es ist klar, dass nach dem Schweiß auch Wein und Grappa reichlich fließen müssen.
Der Samstag beginnt mit kühlem, aber noch trockenem Wetter. Wegen des erwarteten Regens ist am Vormittag nur der kurze, vollkommen erneuerte Colodri-Klettersteig geplant. Dieser beginnt nur wenige Meter vom Hotel entfernt. Jetzt ist er offen! Also hinauf! Die Seilversicherungen sind nagelneu, noch nicht abgegriffen, was die Fahrradhandschuhe des Verfassers endgültig ruiniert. So wird auch er später ein gerngesehenes Opfer im Bergsportshop-Paradies. Der Klettersteig ist relativ einfach und kurz, ein ideales Einstiegserlebnis, nur zwei Tage verzögert. Oben angekommen besteigen wir noch schnell den Colodrigipfel (400m) und nehmen entgegen der üblichen Gewohnheit den gleichen Weg zurück, wobei wir auch ‚Begegnungen am Seil‘ üben können.
Da der Himmel entgegen der Vorhersage immer noch trocken bleibt, macht der Großteil der TN für den Nachmittag noch den ‚Salagoni‘. Dieser Klettersteig führt oberhalb, entlang und über das Salagoniflüßchen nahe Drena und der gleichnamigen Burg. Insbesondere der Einstieg durch eine Klamm mit feuchtglatten, teils überhängenden Wänden beeindruckt die TN. Aus diesem Grund ist er auch bei Regenwetter zu empfehlen. Nur nicht abrutschen! Unten lauern tiefe Pools voll kalten Wassers. Zum Abschluss ist der reißende Bach noch auf einer Drahtseilbrücke zweimal zu überqueren. Auch dieser Klettersteig ist relativ kurz, so dass vor dem Abendessen noch Zeit für einen ausgiebigen Bummel durch die Altstadt von Arco und ein Eis in der Via Giovanni Segantini bleibt. Der geniale Maler von Berglandschaften wurde nämlich 1858 in Arco geboren. Einige seiner Bilder sind z.Zt. im örtlichen Museum zu bewundern.
Am Sonntag zeigt sich wieder ein zwar bedeckter, aber regenfreier Himmel. Zudem herrscht klare Sicht. Ideale Voraussetzungen für den Höhepunkt, die Besteigung der Cima SAT (1246m) über die Via Ferrata dell‘ Amicizia! Dieser ‚Freundschafts‘-Klettersteig liegt direkt oberhalb von Riva am nördlichen Ufer des Gardasees. Die Aussicht auf den See, die Stadt und die umliegenden Berge ist sensationell! Doch vor dem Vergnügen ist harte Arbeit gefragt. Schon der Zustieg an der Bastione und einer CAI-Hütte vorbei ist schweißtreibend. Wenig später wird an einer kleinen Ebene das Klettersteigset angelegt. Ein frischer Felssturz betont die Sinnhaftigkeit der Helme. Nach ein bißchen Kraxelei beginnen die atemberaubend bis zu 70 m langen und senkrechten Eisenleitern. Da muss man durch, anders wäre die glatte Felswand nicht zu überwinden. Die Leitern sind schon ca. 30 Jahre alt und vibrieren bei den gelegentlichen Böen gehörig, doch es hilft nichts. Alle TN erreichen schließlich wohlbehalten und glücklich den kleinen Gipfelsporn der Cima SAT. Hier können wir nun die 1a-Aussicht genießen: Der blaue See mit den winzigen Segelbooten, das platte Sarcatal mit Arco, das wunderschöne Riva und der gegenüberliegende Monte Baldo mit seiner Schneehaube; alles wie zum Greifen nah! Auf einem schön angelegten Serpentinenweg geht es schließlich wieder abwärts vorbei an verfallenen Kanonenstellungen aus dem 1. Weltkrieg, der hier - an der damaligen Grenze zwischen Italien und Österreich-Ungarn – unvorstellbar grausam geführt wurde. Am malerischen Hafen von Riva können wir bei einem weiteren Cappuccino die geschaffte Route noch einmal hoch über uns wie auf einer Panoramakarte studieren.
Am Montagmorgen heißt es ‚Packen‘. Wieder scheint die Sonne, sodass wir auf dem Heimweg noch einen Fotostopp an der Seepromenade von Torbole machen. Hier ist im Sommer das Surfermekka! Heute mühen sich bei Flaute aber nur ein paar Anfänger. Unsere gestrige Route können wir auch von hier zum letzten Mal bestaunen. Eine Informationstafel am Hafen weist auf die unglaubliche Geschichte hin, die sich hier im Jahr 1438 ereignete. Es war wieder einmal Krieg zwischen der Republik Venedig und den Visconti aus Mailand. Venedig besaß nur an dieser nordöstlichen Ecke Zugang zum See. Die Visconti lagen in Riva und bauten eine Flotte zum Angriff auf Brescia. Daher verfiel Venedig auf die wahnwitzige Idee, einige Schiffe die Etsch aufwärts und über Nago zum See zu transportieren. Das Schwierigste war der steile Abstieg nach Torbole. Und so geschah es (mithilfe von 2000 Zugochsen)!
Nach diesem historischen Exkurs fahren wir weiter zum Etschtal. Nach ca. 80 km, fast an der Sprachgrenze der Salurner Klause, befindet sich der Klettersteig ‚Rio Secco‘.
Das straff gespannte Stahlseil führt durch die romantische Klamm des trockenen Flußes und bietet schöne Ausblicke auf das Etschtal und die schneebedeckte Brenta. Nach einer Sanierung im Jahre 2012 ist die Ferrata durch viele neue Trittbügel auch für Anfänger geeignet. Verschwitzt aber glücklich steigen wir schließlich in die Autos und fahren bei schönstem Wetter ohne große Unterbrechungen heimwärts. Auch die befürchteten Grenzkontrollen am Brenner sind noch nicht installiert. Ab dem Fernpass ändert sich das Wetter, die Wolken nehmen zu, das Allgäu zeigt sich als Winterlandschaft, auf der Alb begleiten uns heftige Schneeschauer. Gegen 22 Uhr abends erreichen wir bei eisigen Temperaturen Böblingen. Mitteleuropa hat uns wieder.
Umsomehr denken wir mit Zufriedenheit an die schönen und erfolgreichen Tage am Gardasee zurück!
Text: Dr. Lothar Kipshagen